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Bürgerbeteiligung Stadtentwicklung

Ein Neuanfang in der Stadtplanung ist notwendig – auch personell

Was man in den letzten Tagen der Gießener Presse und sonstigen Quellen über die aktuellen Koalitionsverhandlungen erfahren konnte, eröffnet einen interessanten Einblick in die Motive bei der Vergabe wichtiger Posten in Gießen. Da geht es offensichtlich in erster Linie darum, der Baubürgermeisterin „den Makel einer Abwahl zu ersparen“ – als wäre eine mögliche Abwahl nicht Bestandteil des Deals, den Berufspolitiker eingehen und für den sie auch gut aus Steuergeldern bezahlt werden, für den Fall, dass sich politische Verhältnisse z. B. durch Wahlen ändern.

Wenig dringt indes bisher nach außen über Inhalte, auf die man im Zusammenhang mit der weiteren Stadtentwicklung in Gießen hinarbeiten möchte, oder über dringend erforderliche neue planerische Impulse. Dies alles zeigt, wie sehr das Vorgehen der entscheidenden Lokalpolitiker bei der aktuellen Koalitionsbildung geprägt ist von der Innensicht der beteiligten Akteure.

Die Außensicht sieht nämlich deutlich anders aus:

  • Gießen wurde und wird am Bedarf vorbei massiv nachverdichtet – der Nachholbedarf im Sozialwohnungsbau von mehreren 1.000 Wohneinheiten wurde sträflich vernachlässigt.
  • Der gern zitierte Masterplan von 2004 ist völlig veraltet und als inhaltlicher Handlungsrahmen weitgehend ungeeignet – die öffentliche Diskussion über die Leitlinien der Stadtentwicklung für die nächsten Jahre und Jahrzehnte fehlt völlig.
  • Der abgewählte rot-grüne Magistrat hat sich in der vergangenen Legislatur nach Meinung vieler Beobachter als verlängerter Arm der Gießener Investoren verstanden; Umwelt- und Klimaaspekte, Ansätze zur Reduzierung des Pkw-Verkehrs oder innovative planerische Konzepte spiel(t)en so gut wie keine Rolle.
  • Die weitgehend einheitlichen architektonischen Lösungen bieten den Investoren maximale Gewinnmöglichkeiten, liefern jedoch kaum Impulse für eine identitätsstiftende und nachhaltige Quartiersentwicklung.
  • Und – last but not least – fristet die Bürgerbeteiligung zumindest in Fragen der Stadtentwicklung weiterhin ein kümmerliches Dasein, von niemandem aus Politik und Verwaltung wirklich mit Überzeugung vorangetrieben.

Dass dies nicht die Einzelmeinung weniger notorischer Querulanten ist, zeigt eine sehr interessante, leider bisher nicht weiter publizierte repräsentative Befragung der Gießener Bevölkerung. Die dort dokumentierte massive Ablehnung der Wohnungsbaupolitik durch die 500 Gießener Befragten ist ein harter Schlag ins Gesicht der alten Koalition. Über die Hälfe stimmt der Aussage voll und ganz bzw. weitgehend zu, dass „die Gießener Wohnungsbaupolitik verkehrt“ laufe. Nur eine geringe Minderheit heißt die Baupolitik der letzten Jahre gut – nicht mal ihre eigenen Wähler unterstützen offensichtlich die maßgeblich von den “Grünen“ geprägte Richtung. Und dies, obwohl in den letzten Boom-Jahren auch Millionen an Steuergeldern für die Stadtentwicklung verwendet werden konnten (z. B. Landesgartenschau).

Wie deutlich muss sich der Souverän, sprich: das Volk, eigentlich noch artikulieren, damit die alte Koalition die Notwendigkeit eines Neuanfangs in der Gießener Stadtentwicklung erkennt – eines Neuanfangs auf inhaltlicher und kommunikativer Ebene, der auch mit einem personellen Wechsel im Bürgermeisteramt einhergehen sollte. Und wenn die CDU, der dieser Posten als zweitstärkster Partei eigentlich zusteht, nicht in der Lage oder willens ist, in den eigenen Reihen eine kompetente Persönlichkeit zu finden, bzw. niemand aus ihrem Beritt diese für Gießen so wichtige Aufgabe übernehmen möchte (was ein Armutszeugnis für die Partei des Ministerpräsidenten Volker Bouffier in seiner Heimatstadt wäre!): Was spricht eigentlich dagegen, über ein entsprechendes Auswahlverfahren externen Sachverstand einzubinden?

Es geht schließlich doch um die bestmögliche Lösung für unser Gießen – nicht um berufliche Karrieren Einzelner.

Lutz Hiestermann

1. Vorsitzender von Lebenswertes Gießen e. V.

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