Kategorien
Bürgerbeteiligung Stadtentwicklung Wir in der Presse

„Diskussion findet einfach nicht statt“ (04.03.2016 Gießener Anzeiger)

Von Frank Kaminski

GIESSEN. Seit 2007 streiten die Mitglieder des Vereins „Lebenswertes Gießen“ für mehr Einfluss der Gießener Bürger auf politische Prozesse. Von sich sagen sie: „Wir konzentrieren uns auf wenige lokale Themen, statt auf jeden ‚Zug‘, der durch Gießen fährt, aufzuspringen.“ Eines, das ganz vorne steht auf der Agenda, ist das Thema Stadtentwicklung. Wohin entwickelt sich unsere Stadt? Was ist schiefgelaufen, was sind Projekte, die Gießen dringend braucht? Über diese und viele weitere Fragen hat der Anzeiger im Interview mit dem Vorsitzenden des Vereins, Lutz Hiestermann, gesprochen.

Unsere Serie zur Stadtentwicklung heißt „Gießen – eine Stadt entwickelt sich!“. Wie entwickelt ist Gießen?

Uns würden spontan viele Dinge einfallen, wo noch Luft nach oben ist. Gerade, wenn wir sehen, was in anderen Städten möglich ist in Sachen Klimaschutz, Verkehr, bauliche Entwicklung oder Gestaltung öffentlicher Räume. Gießen entwickelt sich asymmetrisch. Was Kultur, soziale Aspekte und vielleicht die Schulversorgung angeht, braucht Gießen den Vergleich nicht zu scheuen. Aber im Bereich Umweltschutz und Nachhaltigkeit muss man feststellen, dass in den vergangenen Jahren wirklich wenig Positives zu bemerken war. Eigentlich sollten diese Themen bei den Grünen einen hohen Rang besitzen, aber de facto ist in Gießen nichts davon festzustellen. Auch bei der Entwicklung von Aufenthaltsqualitäten in den Quartieren oder im Sozialwohnungsbau gibt es deutlichen Nachholbedarf. Nicht zuletzt haben wir massive Probleme mit Abgasen und mit der Luftbelastung – insofern gibt es noch viel zu tun.

Das heißt, es ist nicht überraschend für Sie, dass die CDU damit wirbt, Gießen soll grüner werden? Und das bei einer rot-grünen Stadtregierung…

Wer die politische Szene in Gießen beobachtet, den überrascht nicht mehr so viel. Aber es ist natürlich schon ein interessanter Aspekt dieses Wahlkampfes, dass gerade die CDU jetzt plötzlich meint, mit grünen Themen punkten zu müssen, wo sie dort in den vergangenen Jahren nicht den Schwerpunkt gesetzt hat. Wir hätten uns an vielen Stellen gewünscht – unabhängig von parteipolitischen Präferenzen –, dass die CDU ihren Beitrag zum städtischen Diskurs über die Frage geleistet hätte, wohin sich die Stadt entwickeln soll. Aber das haben wir nicht wahrnehmen können. Das ist ein grundlegendes Problem in dieser Stadt, dass die letzten Jahre weitgehend ohne Opposition gearbeitet wurde. Deren Impulse fehlen unseres Erachtens enorm.

Bürgerinitiativen in Gießen entstehen also nur, weil…

…sie ein bestehendes Vakuum füllen. Und das liegt daran, dass wir eine 80-Prozent-Großkoalition im Parlament haben, in der im Prinzip Konsens darüber herrscht, Gießen massiv zu verdichten, aber bloß nicht in den Diskurs mit der Bürgerschaft einzutreten, wo der Weg denn hinführen soll. Das sehen nicht nur wir so. Wir sind ein kleiner Verein, aber wir sind inzwischen auch gut vernetzt und wir kriegen viele Rückmeldungen, auch von Bürgern und Funktionsträgern auf allen Ebenen. Wir bekommen zumeist eine Bestätigung, dass wir bei den Dingen, die wir kritisch artikulieren, richtig liegen. Es kann doch nicht nur um eine Art hysterisches Wachstum in Gießen gehen. Warum gibt es niemanden auf politischer Ebene, der auch mal sagt, was wirklich das Leitbild ist, nach dem die Stadt sich entwickelt?

Geben Sie uns ein paar Impulse…

Wohin Gießen sich entwickeln soll, ist mit Sicherheit ein Thema für intensive Bürgerbeteiligung. Für uns ist Stadtentwicklung etwas, das alle Bevölkerungsgruppen einbeziehen muss. Und das ist, ungeachtet der Tatsache, dass wir eine Bürgerbeteiligungssatzung haben, bislang keine gelebte Kultur.

Liegt es an den Bürgern oder an den Politikern?

Das liegt in erster Linie daran, dass der Versuch der Einflussnahme durch Bürger von Politik und Verwaltung, zumindest im Bereich der Stadtplanung, zuallererst als Störfaktor wahrgenommen wird. Wir haben eine Stadt, die sich enorm schnell entwickelt, vor allem was die Anzahl an Bauvorhaben und Bebauungsplänen angeht. Trotzdem ist im Stadtplanungsamt der Personalbestand über die letzten Jahre hinweg gleich geblieben. Das liegt natürlich auch am Rettungsschirm. Wir haben viel Zeit und ehrenamtliche Arbeit investiert, um uns etwa in einzelne Pläne zum Technologiepark, zur Bergkaserne oder auch zu Poppe einzuarbeiten. Das können doch die Parlamentarier, die dann darüber und über vieles andere mehr zu entscheiden haben, gar nicht leisten. Die parlamentarische Kontrolle der Pläne fällt dann vielfach unter den Tisch. Und was dabei verloren geht, ist das Übergeordnete, dieser Blick in die Zukunft. Wo steht Gießen 2030/40?

Können Sie ein Beispiel nennen?

Zum Beispiel müssen wir in Gießen den motorisierten Individualverkehr möglichst weit reduzieren, um die damit verbundenen Belastungen zu minimieren – Lärm, Abgase, Platzbedarf, Unfälle. Dabei könnte man etwa das andernorts heftig boomende Thema Carsharing viel stärker in den Mittelpunkt stellen und mit modernen ÖPNV-Angeboten und Verbesserungen für den Radverkehr verknüpfen. Die Diskussion hierüber findet aber einfach nicht statt, weil sich in der Stadtplanung fast alles um Nachverdichtung dreht, nicht aber um deren Folgen.

Wohin soll sich Gießen Ihrer Meinung nach entwickeln?

Im Prinzip ist unser Name Programm. Es geht um ein lebenswertes Gießen. Es geht darum, die Stadt für möglichst viele Leute möglichst lebenswert zu gestalten. Wir haben zu wenig Aufenthaltsqualität in der Stadt, wir haben sicher auch noch Nachholbedarf in der Zusammenarbeit von Stadt und Universität. Unserer Meinung nach bietet unsere Stadt ideale Voraussetzungen für innovative Konzepte, weil Gießen mit seinen mehr als 80 000 Einwohnern eine noch überschaubare Größe hat und aufgrund des Bildungsgrades und der Struktur der Bevölkerung für solche Konzepte eher aufgeschlossen ist. Andererseits kommt man nach der Erfahrung der vergangenen Legislaturperiode nicht umhin, zu konstatieren, dass offensichtlich einer investorengesteuerten Entwicklung in Gießen eine höhere Priorität eingeräumt wurde.

Woran liegt das?

Weil eben scheinbar so viele Dinge gleichzeitig zu entwickeln waren. Wenn darüber hinaus das Stadtplanungsamt selbst davon spricht, dass alle Mitarbeiter nahe am Burnout arbeiten und sicher auch deshalb beschleunigte Verfahren durchführen müssen, passieren natürlich Fehler. Jeder Investor will natürlich der Erste sein, der am Geldtopf sitzt und seine Dinge vermarktet. Da muss jedes Projekt schnell gehen. In dem Moment, in dem ich sage, ich entwickle ein Leitbild, muss ich innehalten. Da muss ich erst mal gucken, was ist denn Gießen? Und da kann ich nicht parallel dazu die Flächen an allen Ecken und Enden zubauen, nur um nachher festzustellen, dass wir jetzt zwar eine Idee haben, diese aber nicht mehr umsetzen können, weil alle Flächen schon verplant sind. Aber die Verantwortlichen müssen natürlich auch überlegen, wo denn eigentlich der größte Bedarf im Wohnungsbau ist und dies mit einem verlässlichen Zahlengerüst hinterlegen. Aber daran hapert es in Gießen. Mehrere tausend Wohneinheiten sind in den letzten Jahren geplant und gebaut worden, aber alle im mittleren und hochpreisigen Segment. Dabei ist nicht erst seit gestern bekannt, dass wir den wesentlichen Nachholbedarf mit über 3000 Wohneinheiten im Sozialwohnungsbau haben.

Es gibt Ihrer Meinung nach keine Leitidee für Gießen?

Wenn wir nachfragen, wird immer wieder auf den Masterplan von 2004 verwiesen. Allerdings ist dessen Relevanz für die heutige Situation mehr als gering, vor allem weil man damals von einer schrumpfenden und nicht stärker wachsenden Stadt ausgegangen ist. Es handelt sich dabei also um ein historisches Dokument ohne entscheidenden Bezug zum Hier und Jetzt. Daher brauchen wir dringend einen neuen Masterplan für die Stadt, der möglichst zeitnah entwickelt werden sollte.

Sie haben gerade gesagt, dass in Gießen die investorengesteuerte Planung überhandnimmt. Können Sie das näher erläutern?

Wir haben ja das Glück, dass die Investoren teilweise gute Sachen machen und die richtigen Impulse geben, manchmal sogar besser als die Stadt selbst, wenn es gilt, Historisches zu erhalten. Aber nichtsdestoweniger macht man sich natürlich abhängig und begibt sich in eine Struktur, in der die Politik nicht mehr bestimmt. Ich glaube, das ist auch Ausdruck dieser Überforderung auf verschiedenen Ebenen. Da muss man sehen, wie man das durchbrechen kann. Unser Verein heißt ja „Lebenswertes Gießen“ und nicht „Möglichst großes Gießen“ oder „Investorenfreundliches Gießen“. Es geht um die Qualität. Wachstum um des Wachstums willen kann für mich kein Ziel sein.

Wie demokratisch kann Stadtplanung überhaupt sein?

Also, wir müssen uns ja nur mal den Paragrafen 1 der Bürgerbeteiligungssatzung durchlesen. Die hat sich die Stadt Gießen selbst gegeben, da kommt der entscheidende Stichpunkt gleich am Anfang: „Ziel dieser Satzung ist es, durch eine mitgestaltende Bürgerbeteiligung an kommunalen Planungs- und Entscheidungsprozessen Transparenz zu schaffen, das Vertrauen zwischen Bürgerschaft, Verwaltung und Politik weiter zu stärken, die demokratische Diskussionskultur ergebnisorientiert auszubauen und ein positives Umfeld für Investitionen zu erhalten und weiterzuentwickeln.“ Jetzt können wir überlegen, ob mitgestaltend vergleichbar ist mit demokratisch. Da sind wir der Meinung, dass Gießen großen Nachholbedarf hat.

Wenn der Bürger kaum Möglichkeiten hat, Einfluss zu nehmen, wer steuert dann die Stadtentwicklung?

Das ist eine Frage, die wir hier nicht abschließend beantworten können. Unser Eindruck ist aber schon, dass die Rolle der Investoren in dieser Stadt von Politik und Verwaltung überinterpretiert wird, wenn die Leitung des Stadtplanungsamts ausdrücklich von investorenfreundlicher Entwicklung in Gießen spricht. Es ist die primäre Aufgabe eines Investors, Geld in die Hand zu nehmen, Projekte zu entwickeln und durch seine Tätigkeit möglichst viel Profit zu erwirtschaften. Das ist eben nicht Stadtentwicklung – die muss von der politischen Führung und der Verwaltung übernommen werden, idealerweise auf Basis eines klaren Leitbilds, das unter Beteiligung der Bürger entwickelt wurde.

Also sind Investoren eher ein Hemmnis für eine umfassende Stadtentwicklung?

Wir sind nicht investorenfeindlich. Ohne bestimmte Investoren würde es in Gießen ganz trüb aussehen. Aber die Stadt darf sich doch nicht alles aus der Hand nehmen lassen. Ich glaube, die aktuelle Stadtentwicklungspolitik hat eine extrem geringe Akzeptanz bei der Bevölkerung. Bei uns landen inzwischen Leute aus allen Stadtteilen Gießens, wenn sie ein Problem haben und sich weder von den Parteien noch der Verwaltung ernst genommen fühlen. Wir sind sozusagen der Puffer für das Stadtplanungsamt. Und dann wundern sich Leute über Politikverdrossenheit und geringe Wahlbeteiligung.

Ganz konkret: Was ist in den letzten Jahren schiefgelaufen?

Ich halte zum Beispiel die Entwicklung der Bergkaserne für den falschen Weg. Der Masterplan, aber auch die ersten Entwürfe, auf die sich die Investoren beworben hatten, sahen anders, viel weniger verdichtet aus. Wenn man jetzt dort vorbeifährt, ist das meiner Meinung nach kein Ort, an dem man furchtbar gerne leben möchte. Es ist zu dicht, es ist nicht innovativ, es ist in der Gestaltung beliebig. Was soll das Besondere an diesem Quartier sein, wie erkenne ich es überhaupt als Quartier? Und mit der Fällung der Kastanien wurde der umfeldprägende Park einfach zerstört – zum kurzfristigen Nutzen des Investors. Auch diese Fehlentwicklungen hätten vermieden werden können, wenn wir es in Gießen mit einer gelebten Bürgerbeteiligungskultur in Verwaltung und Politik zu tun hätten, dann wären bestimmte Dinge so sicher nicht passiert.

Was ist gelungen?

Uns gefällt, wie die Lahn jetzt stärker in die Stadt integriert ist und von der Bevölkerung genutzt wird, ebenso der Rübsamen-Steg. Oder einige privatwirtschaftliche Initiativen, z.B. die BIDs (Business Improvement Districts) im Innenstadtbereich, die trotz der Konkurrenz durch das Neustädter Tor die Sache am Laufen halten. Sehr positive Ansätze sind auch Initiativen aus dem studentischen Bereich wie Free School oder Transition Town, die neue Impulse für die Stadtgesellschaft geben. Und uns freut das bürgerschaftliche Engagement für die Flüchtlinge. Wir sind froh, wie trotz dieser vorhandenen Belastung in dieser Stadt – auch seitens der Bürgermeisterin und Oberbürgermeisterin – damit umgegangen wird. Und generell freut uns, dass Gießen von großem ehrenamtlichen Engagement geprägt ist, das die Stadt voranbringt, sei das die Tafel oder andere schon länger etablierte Organisationen.

Nennen Sie uns zum Schluss drei Projekte, die für Gießen wichtig wären.

Neben der Entwicklung einer gelebten Bürgerbeteiligungskultur müssen wir große Anstrengungen unternehmen, um den Umweltverbund, das heißt Rad- und Fußverkehr, ÖPNV und Carsharing zu stärken. Das ist ein Hauptprojekt, für das alle großen Verkehrsverursacher gemeinsam mit den Bürgern an einen Tisch müssen, um zukunftsfähige Konzepte zu entwickeln. Zweitens würden wir uns eine engere Vernetzung von Uni, Stadt und Region in Fragen der Stadtentwicklung wünschen, wie wir es zum Beispiel in Siegen sehen können. Als Drittes würde mir noch eine Innovationsoffensive einfallen. Da könnte Gießen aufgrund der Bevölkerungsstruktur und der Nähe zur Uni Potenziale freisetzen, die nicht viele Städte in dieser Größe haben. Ich würde mir wünschen, dass in fünf oder zehn Jahren Leute nach Gießen kommen und sagen: Da ist man wirklich innovativ an Probleme herangegangen.