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Bürgerbeteiligung Wir in der Presse

Poppe-Areal: Mehr Bürgerbeteiligung gefordert (Gießener Allgemeine 30.03.2012)

Poppe-Areal: Mehr Bürgerbeteiligung gefordert

Verein „Lebenswertes Gießen“ empfing zum Informationsabend – Hiestermann: „Wünschen uns eine aktivere Rolle der Stadt“

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22.11.2011 – Offener Brief an die Oberbürgermeisterin, die Bürgermeisterin und Baustadträtin sowie die Fraktionsvorsitzenden zur Beplanung des Poppe-Areals

Aufgrund der in den vergangenen Tagen und Wochen in Teilen der Medien vorgebrachten z. T.  etwas überraschenden Argumentationen sehen wir uns veranlasst, einige Klarstellungen aus Sicht des Vereins Lebenswertes Gießen e. V. zur Neubeplanung des Poppe-Geländes  vorzunehmen.

Zusammenfassend werden im Wesentlichen folgende Argumente ins Feld geführt, um dafür zu plädieren, die von der Firma Poppe präsentierte (Vor-)Planung möglichst ohne Änderungen und zeitnah umzusetzen:
1. Die 80 Arbeitsplätze, deren Existenz auf dem Spiel stünde, wenn die Planungen der Firma Poppe nicht 1:1 umgesetzt würden.
2. Die vermeintlich fehlende historische Authentizität der Keller.
3. Die Feststellung, dass der Umgang mit dem Gelände in den vergangenen Jahrzehnten in Gießen keine Rolle gespielt habe – und es daher auch jetzt nicht zu tun brauche.
4. Die Charakterisierung derjenigen Gießener Bürger, die sich – aus welchen Gründen auch immer – für andere als die von der Firma Poppe angedachten Lösungen offen zeigen, als „Nostalgiker“ (wobei das Attribut „hoffnungslos“ hier mitzulesen ist).
Zu diesen Argumentationen nimmt der Verein Lebenswertes Gießen e.V. folgendermaßen Stellung.
Dabei erinnern wir daran, dass es auch Mitglieder des Vereins waren, die in den vergangenen Wochen und Monaten durch viele Kontakte mit relevanten Behörden und durch sehr intensive Gespräche mit betroffenen Zeitzeugen dazu beigetragen haben, viele (bei weitem noch nicht alle) offenen Punkte im Zusammenhang mit den Poppe-Kellern anzusprechen und in die öffentliche Diskussion zu bringen, u.a. bei einer öffentlichen Vereinssitzung mit über 100 interessierten Bürgerinnen und Bürgern.

Zu Punkt 1:
Der Verein hat in den vergangenen drei Monaten an zwei von der Stadt Gießen organisierten Veranstaltungen teilgenommen, in deren Rahmen die Vorstellungen der Firma Poppe präsentiert wurden. Zu beiden Anlässen wurde der Stadt und dem Verein durch den Vertreter der Firma Poppe, Herrn Dr. Erlhof, unmissverständlich mitgeteilt, dass es aus Sicht der Firma Poppe ausschließlich darum gehe, die vorliegende Planung umzusetzen, um so den maximalen ökonomischen Nutzen aus dem Verkauf des Grundstücks zu ziehen, da die verbleibenden 80 Arbeitsplätze nur so in Gießen gehalten werden könn(t)en. Die Art und Weise, wie hier den politisch Handelnden (aber auch dem Verein als einem Vertreter von interessierten Gießener Bürgerinnen und Bürgern) die Pistole auf die Brust gesetzt wird, zeigt, dass die Firma Poppe beabsichtigt, mit einer vagen Aussicht auf den Erhalt der Arbeitsplätze jegliche Diskussion im Keim zu ersticken. Der Versuch, sowohl die besondere Bedeutung des Geländes als auch den Erhalt der Arbeitsplätze unter einen Hut zu bringen, soll gar nicht erst unternommen werden.
Aus Sicht des Vereins führen Denkverbote dieser Art nur zu einer frühzeitigen Verhärtung der Fronten und bei den betroffenen Arbeitnehmern zu unnötigen Ängsten. Es ist dem Verein selbstverständlich nicht egal, ob die 80 Arbeitsplätze in Gießen erhalten werden oder nicht. Die vom Betriebsrat artikulierten Befürchtungen sind sehr wohl in allen Überlegungen zu berücksichtigen. Der Verein spricht sich daher ganz klar für einen verbindlichen Erhalt der Arbeitsplätze in Gießen aus.
Eine Standortverlagerung ist in aller Regel eine strategische und keine operative Unternehmensentscheidung, in die weit mehr Faktoren einfließen als rein ökonomische Betrachtungen. Daher erscheint die ausschließliche Einengung der Entscheidung auf die Erlöse aus dem Verkauf des Firmenareals eher konstruiert. Die Firma Poppe benutzt offensichtlich ihren guten Namen, den sie bisher ohne Zweifel in Gießen hat, um von der Stadt Zusagen für weitreichende Bebauungsmöglichkeiten zu erhalten.
Unabhängig davon ist es auch so, dass dem Verein in den vergangenen Wochen von verschiedenen auch mit der Firma Poppe verbundenen Seiten zugetragen wurde, dass die Entscheidung der Verantwortlichen ohnehin bereits gefallen sei – und zwar gegen Gießen (völlig unabhängig vom Verkaufserlös des Geländes). Der Verein sieht sich nicht in der Lage, den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen zu überprüfen. An dieser Stelle sei jedoch daran erinnert, dass es in der jüngeren Gießener Geschichte durchaus Beispiele dafür gibt, dass groß angekündigte Zusagen in Bezug auf Arbeitsplätze sehr schnell über den Haufen geworfen wurden, auch wenn Planungen und Versprechungen seitens der Firmen andere waren – siehe Nürnberger Bund.
Es wäre daher angebracht, wenn die Firma Poppe gegenüber der Öffentlichkeit Zahlen auf den Tisch legen würde, um ihre Argumentation zu untermauern bzw. nachvollziehbar zu machen. Dies gilt insbesondere, da sich das Unternehmen nach Aussage von Herrn Dr. Erlhof (GAZ vom 17.02.2011) in einer guten wirtschaftlichen Situation befindet. Immerhin hat das Gießener Werk als wichtiger Teil der international tätigen Poppe-Veritas Holding GmbH & Co. KG im Jahr 2010 mit 56 Mio. € Umsatz das zweithöchste Ergebnis seiner Geschichte eingefahren.

Zu Punkt 2:
Der unter der Überschrift „Letzter intakter Poppe-Keller »kein authentischer Ort«“ am 11.11.11 in der Gießener Allgemeinen erschienene Artikel, in dessen Rahmen Herrn Schlagetter-Bayertz breiter Platz eingeräumt wurde, stößt nicht nur im Verein auf Verwunderung, vor allem im Hinblick auf seine Intention. Der Verein verwahrt sich mit aller Entschiedenheit gegen die z. T. persönlich verleumderischen Unterstellungen, die völlig ohne Anlass in die Öffentlichkeit getragen werden.

Einige Richtigstellungen seien daher erlaubt:

– Der intakte Keller ist sehr wohl ein authentischer Ort, nicht als Luftschutzkeller, sondern als Teil einer Gesamtanlage. Die Obere Denkmalschutzbehörde prüft, auch wegen der Vorgeschichte der Gewölbe als Brauereikeller aus dem 19. Jahrhundert, das Gesamtensemble der Keller als schützenswert einzustufen (s. GAZ 29.10.2011). Der noch intakte Keller dürfte unserem aktuellen Kenntnisstand nach weitgehend baugleich sein mit den anderen fünf Kellerpaaren, die wohl nicht mehr begehbar sind. Auch wenn er selbst nie als Schutzraum genutzt worden ist, ist es für den Verein sehr wohl möglich, in diesem Keller di »historische Situation« einer solchen Einrichtung zu vermitteln und nachzuempfinden. Herr Schlagetter-Bayertz zieht die Gefühle der Besucher als »authentische Bunkergefühle« ins Lächerliche und disqualifiziert sich damit eher selbst, als dass er einen ernstzunehmenden Beitrag zur Diskussion leistet.
Dies gilt im Übrigen auch für das Argument, es gebe in Gießen mit dem Stein am Kirchenplatz
und dem neuen Bodenornament am Kreuzplatz schon zwei Orte, an denen der Bombentoten gedacht werde.
– Dass die Firma Poppe außer einem lange zurückliegenden ersten Kontakt mit einem inzwischen pensionierten Mitarbeiter der Oberen Denkmalbehörde in den vergangenen Monaten keine Kommunikation mit der zuständigen Behörde hatte, ist für den Verein ein Indiz dafür, dass man an diesem Thema möglichst nicht rütteln wollte – nach dem Motto „keine schlafenden Hunde wecken“-. Zur Erinnerung: Auf dem Grundstück der Firma Poppe sind am 6. Dezember 1944 über 100 Menschen gestorben (Gießener Bürgerinnen und Bürger aber auch Fremdarbeiter). Diese Menschen waren guten Glaubens in die Keller gegangen, obwohl der damaligen Leitung der Firma Poppe hätte klar sein müssen, dass zum einen der Firmenstandort als kriegswichtiger Betrieb bei einer Bombardierung Gießens ein primäres Ziel sein würde und zum anderen die Keller einem Bombenangriff nie standhalten würden. In dieser historischen Verantwortung sieht der Verein die Firma Poppe – ob eine Informationstafel dieser Verantwortung gerecht wird, sei zumindest als Frage erlaubt. – In diesem Zusammenhang ist es sehr wohl wünschenswert, auch der Erinnerung an die Schicksale der Gießener Zwangsarbeiter einen Raum zu geben sowie an die Verbrechen von Gießener Ärzten und Wissenschaftlern im 3. Reich zu erinnern. Vielleicht ist dies sogar eine Möglichkeit, die Justus-Liebig-Universität und das Rhön-Klinikum konzeptionell und finanziell mit „ins Boot“ zu holen. Um eben solche Ansätze zu prüfen und gedanklich weiter zu entwickeln, ist es nach Überzeugung des Vereins kontraproduktiv, sich – wie von einigen gefordert – frühzeitig selbst Schranken aufzuerlegen.

Zu Punkt 3:
Die Aussage, dass die Poppe-Keller in den vergangenen Jahrzehnten keine Rolle gespielt hätten, ist falsch. In den Gesprächen vieler Gießener Familien hat dies seit den schrecklichen Ereignissen 1944 sehr wohl eine wichtige Rolle gespielt – allerdings „nur“ im privaten Rahmen.
Richtig ist, dass es aufgrund der privatrechtlichen Besitzverhältnisse keine Möglichkeit gab, sich konzeptionelle Gedanken über den Umgang mit den Kellern zu machen. Diese Ausgangssituation hat sich durch den geplanten Umzug der Firma Poppe nun komplett verändert – es ist daher die Aufgabe einer informierten und interessierten Bürgerschaft ebenso wie der Gießener Stadtpolitik, sich Gedanken darüber zu machen, wie die zukünftige Nutzung des Geländes aussehen könnte/sollte.

Zu Punkt 4:
Die Nachkriegsgeschichte Gießens ist sicher nicht davon geprägt, dass es eine zu große Rücksichtnahme auf die nach der Bombardierung noch vorhandene Bausubstanz und/oder historische Zusammenhänge gegeben hätte. Man hätte sich an der einen oder anderen Stelle sicher gewünscht, dass sich in der Vergangenheit mehr „Nostalgiker“ in Gießen zu Wort gemeldet hätten.
Für den Verein ist der Erhalt der Poppe-Keller kein Selbstzweck. Vielmehr bieten sie vermutlich eine der letzten Gelegenheiten, besondere historische Bausubstanz zu sichern und den Gießener Bürgern einen Raum zum Andenken an ein leidvolles Kapitel der Gießener Geschichte mit all seinen Facetten in der hier möglichen Anschaulichkeit zu erhalten.

Fazit:
Es ist aus Sicht des Vereins nicht einzusehen, warum zu einem solch frühen Zeitpunkt des städtischen Planungsverfahrens bereits eine gedankliche Reduzierung auf die – vorsichtig formuliert – bisher wenig inspirierten Planungen der Firma Poppe vorgenommen werden sollte. Ein-Varianten-Lösungen und Denkverbote, wie sie die Firma Poppe aktuell anbietet bzw. fordert sind in diesem frühen Stadium kontraproduktiv.
Der Verein weiß nicht, wie lange die Fa. Poppe noch am Standort Gießen produzieren wird. Klar ist jedoch, dass die anstehenden Planungen das Gießener Südviertel über Jahrzehnte prägen werden.
Der Abriss der Keller würde die unwiederbringliche Zerstörung der historischen Bausubstanz bedeuten – ein nachträgliches „Ach, hätten wir doch nur…“ gilt es zu vermeiden.
Es geht nicht um ein unbedeutendes, am Rande der Stadt gelegenes Einzelgrundstück, sondern um eine neu zu beplanende Fläche von immerhin fast drei Hektar, die mitten in Gießen liegt. In der Vergangenheit wurden in der Stadt Gießen viele Chancen vertan, dem historischen Erbe und Bürgergedächtnis einen Raum zu geben – vertun wir diese Chance bei der Neugestaltung des Poppe-Geländes nicht auch leichtfertig!

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Poppe-Nachfolgenutzung: Bürger fordern Mitspracherecht (Gießener Anzeiger 27.8.2011)

(fod). Es ist ein Ort von großer stadtgeschichtlicher Bedeutung. Und auch voller Tragik. Denn als am 6. Dezember 1944 Gießen von Bomben in Schutt und Asche gelegt wurde, kamen alleine hier über 100 Menschen zu Tode. Die zwischen Bäumen zu findenden steinernen Überreste des sogenannten Poppe-Kellers auf dem Gelände der Firma Poppe im Leihgesterner Weg legen Zeugnis ab von einem der schlimmsten Ereignisse in der Geschichte Gießens. Nachdem das Unternehmen jüngst beschlossen hat, seine dortigen Produktionsstätten zu verlegen und das Grundstück zu verkaufen, sind Einwohner des Südviertels in Sorge, was aus dem Gelände wird.

Ausgehend vom Verein Lebenswertes Gießen haben sich daher einige Personen in einer Initiative zusammengefunden und fordern ein Mitspracherecht bei der künftigen Gestaltung. Am kommenden Dienstag geht man erstmals groß in die Öffentlichkeit und lädt um 19.30 Uhr zu einer Vereinssitzung in den Gemeindesaal der Petruskirche (Wartweg 9) ein.

„Bisher haben wir uns nur in kleinem Rahmen ausgetauscht. Von der Veranstaltung erhoffen wir uns wichtige Impulse für den weiteren Prozess“, formuliert Vorsitzender Lutz Hiestermann die Erwartungen. Zudem möchte man möglichst viele Mitbewohner des Südviertels, aber auch andere Interessierte über den aktuellen Stand informieren. Dass die Zukunft der historischen Stätte vielen am Herzen liegt, belegt schon die enorme Resonanz der von der Tourist-Information am 11. September, dem Tag des offenen Denkmals, angebotenen zwei Führungen mit Zeitzeugen zum Poppe-Keller. Beide sind bereits ausgebucht. Und für einen eventuellen dritten Termin existiert bereits eine Warteliste.

Was auf dem Gelände einmal entstehen wird, ist bislang unklar. Denn es existiert noch kein Entschließungsbeschluss, der Voraussetzung für eine Bebauungsplanung ist. „Wir sind kein Gegen-Verein und gehen offen auf die Sache zu“, macht Martin Schambeck deutlich. Doch wolle man „möglichst rechtzeitig informiert werden“, sagt Thomas Hilbrich, „bevor Fakten geschaffen sind“. Denn es soll „nichts entstehen, was das Gesicht unseres Viertels vollkommen verändern würde“, betont Schambeck. Gleichwohl ist Lutz Hiestermann bewusst, dass es sich bei dem Gelände um ein „Filetstück im Südviertel“ handelt, das Begehrlichkeiten von Investoren weckt. Die dann auch den Bereich des Poppe-Kellers überbauen könnten, da dieser „nicht im denkmalgeschützten Bereich liegt“, der von der Villa den Park abwärts führe, wie Susanne Trautwein-Keller erläutert.

Für den Bereich um die Kellerruine wünschen sich die Vereinsmitglieder eine Bebauung, die dessen geschichtlicher und menschlicher Bedeutung gerecht wird. Martin Schambeck schlägt die Schaffung eines „Ortes der Begegnung“ vor, an dem an die Schrecken der Bombenangriffe und die Folgen des Nationalsozialismus in Gießen erinnert wird. „Eine Stelle, an der das Drama des 6. Dezember 1944 erfahrbar wird“, sagt Lutz Hiestermann. Laut Barbara Haderer leben im Südviertel heute viele Nachfahren von Menschen, die im eigentlich nicht als Luftschutzraum geeigneten Poppe-Keller zu Tode kamen. „Es gibt Mutmaßungen mancher Zeitzeugen, dass noch Leichen darin liegen“, berichtet Susanne Trautwein-Keller. Denn das Gewölbe sei damals nach den Bergungsarbeiten „zugeschüttet worden“, weiß Barbara Haderer.

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07.12.2010 – Offener Brief an die Oberbürgermeisterin und den Baudezernenten der Stadt Gießen, sowie die Fraktionsvorsitzenden

Offener Brief des Vereins Lebenswertes Gießen e. V. an die Oberbürgermeisterin der Stadt Gießen, Frau Dietlind Grabe-Bolz, Herrn Baustadtrat Thomas Rausch sowie die Fraktionsvorsitzenden der im Gießener Stadtparlament vertretenen Parteien zur Verkehrssituation im Gießener Südviertel

Der Verkehrsversuch in der Robert-Sommer-Straße wurde nicht zuletzt aufgrund massiver Bürgerproteste nach nur wenigen Wochen abgebrochen. Im gleichen Atemzug verkündete der Gießener Baustadtrat Thomas Rausch, dass damit nun die letzte Möglichkeit für eine Reduzierung der Verkehrsbelastungen im Südviertel vergeben worden sei.

Diese Aussage, die leider sehr stark nach „beleidigter Leberwurst“ klingt, lässt die Bürgerinnen und Bürger im Südviertel mit den massiven, durch den starken Verkehr verursachten Problemen allein. Einige stichpunktartige Kommentare zu dieser Aussage aus Sicht von Gießener Bürgerinnen und Bürgern scheinen daher dringend angebracht!

Der Verein Lebenswertes Gießen e. V. nimmt zur aktuellen Situation wie folgt Stellung:

1.      Der Versuch der Sperrung der Robert-Sommer-Straße war auch aus Sicht neutraler Beobachter weder besonders gut durchdacht, noch gut kommuniziert oder mit den Betroffenen (z. B. den Schulen und Behörden) abgestimmt – Punkte, die sich Herr  Rausch selbst zuzuschreiben hat.

2.      Die Reduzierung der mit dem hohen Verkehrsaufkommen verbundenen Belastungen stellt einen entscheidenden Schlüssel für die Verbesserung der Lebensqualität der Bevölkerung im Gießener Südviertel (und nicht nur dort) dar. Mit anderen Worten, nur wenn es gelingt, den Anteil des sog. motorisierten Individualverkehrs (MIV) systematisch und nachhaltig zu verringern und den Umweltverbund (d. h. den Öffentlichen (Nah)verkehr, Radfahrer, Fußgänger) zu stärken, kann es zukünftig gelingen, die beklagten Belastungen zumindest teilweise in den Griff zu bekommen. Zugegebenermaßen ist dies weder ein neuer, noch ein besonders kreativer Gedanke, nichtsdestotrotz ist er so aktuell wie nie, zumal für die kommenden Jahre mit weiter steigenden Belastungen durch den MIV gerade im Gießener Südviertel zu rechnen ist. Das Biomedizinische Forschungszentrum und sonstige Unibauten mit entsprechenden Mitarbeitern und Studierenden werden naturgemäß keinen Beitrag zur Verringerung des Verkehrsaufkommens leisten.

3.      Aus Punkt 2 folgt, dass es die originäre Aufgabe von Herrn Rausch als oberstem Verkehrsverantwortlichen in der Stadt Gießen sein muss, seine Kraft und Kenntnisse dafür einzusetzen, diese Belastungen durch vorausschauende und nachhaltige verkehrsplanerische Maßnahmen zu minimieren. Aus dieser Verantwortung kann und darf sich Herr Rausch nicht einfach verabschieden, solange er aus Steuergeldern genau dafür bezahlt wird.

4.      Es fällt schwer zu glauben, dass in der Amtszeit von Herrn Rausch sämtliche denkbaren Ansätze zur Reduzierung des MIV geprüft und ggf. verworfen wurden. Es kann es nicht Gegenstand dieses offenen Briefes sein, mögliche Ansätze in aller Breite darzustellen, jedoch seien beispielhaft genannt: Schaffung von Anreizsystemen zur Verkehrsvermeidung in Kooperation mit den stärksten Verursachern des Individualverkehrs, Jobticket, Parkraumbewirtschaftung, Bringdienste des Einzelhandels, Initiativen zur Ausweitung des Carsharings,Synchronisierung der Fahrpläne und Routen der Städtischen Buslinien mit den Regionalverkehrsbussen, etc.

Der Verein „Lebenswertes Gießen e.V.“ fordert die Stadt Gießen in Person von Frau Grabe-Bolz und Herrn Rausch daher auf, die aktuell vorhandene Dynamik der kontroversen Diskussion zu nutzen, um neue Impulse für die Reduzierung des MIV und eine Stärkung des Umweltverbunds im Südviertel und darüber hinaus in Gießen zu setzen.

Der Verein hat in seiner letzten Mitgliederversammlung das Thema Verkehr zum Schwerpunkt seiner zukünftigen Arbeit erklärt und ist daher bereit, einen konstruktiven Beitrag zu dieser Diskussion zu leisten. Dies betrifft nicht nur den mehr oder weniger fließenden Verkehr, sondern insbesondere auch den sogenannten ruhenden Verkehr, der in vielen Straßen des Südviertels und Gießen Mitte für Bewohner z. T. unerträgliche Ausmaße annimmt.

Es bedarf u. E. hierzu einer konzertierten Aktion aller relevanten Gruppen (Planer, Verkehrsverursacher, Verkehrsdienstleister, betroffene Bürger etc.). Auf der Basis größtmöglicher Transparenz über die Rahmenbedingungen (d. h. Pendlerströme, vorhandener öffentlicher und privater Parkraum etc.) sollten praktikable Maßnahmen mit kurz-, mittel- und langfristigem Effekt entwickelt und natürlich auch umgesetzt werden. Immerhin stehen in den nächsten Jahren nicht nur weitere Großbaustellen an der Uni (z. B. Chemiegebäude), die Entwicklung des Technologieparks Ohlebergsweg, eine potentielle Umgestaltung des Poppe-Geländes, zusätzliche Wohnraumschaffung entlang des Leihgesterner Weges etc., sondern auch vermutlich weiter steigende Studentenzahlen, die Landesgartenschau etc. bevor.
Daher darf sich die inhaltliche Auseinandersetzung nicht in erster Linie auf den Bau von Parkhäusern, wie z. B. in der Gaffkystraße, beschränken. Stattdessen sollte ein erster Schritt darin bestehen, die stärksten Verursacher des MIV (d. h. die großen Arbeitgeber wie die Rhön-Klinikum AG, die Justus-Liebig-Universität, die Finanz- und anderen Behörden, aber z. B. auch die Willy-Brand- und die Martin-Buber-Schule) in entsprechende Initiativen einzubinden. Gerade hier bestehen sicher noch viele ungenutzte Potenziale zur Verkehrsvermeidung.

Eines dürfte dabei allen Beteiligten klar sein: Den großen, alle z. T. einander widersprechenden Bedürfnisse abdeckenden Wurf wird es nicht geben können, vielmehr geht es darum, mit einer Vielzahl einzelner, so weit wie möglich miteinander koordinierter Lösungsansätze einen maximalen Entlastungseffekt zu erreichen. Zudem ist es wichtig, die Bevölkerung in die Entwicklung und Umsetzung von Verkehrsvermeidungsansätzen frühzeitig einzubinden.

Das Thema Verkehr steht – leider viel zu spät – sehr weit oben auf der Agenda und wird dies auch über die Kommunalwahl im kommenden März hinaus bleiben. Die Gießener Parteien sollten sich hier klar positionieren, wie ihre konkreten Strategien zur Verkehrsvermeidung und -lenkung aussehen. Eine fatalistische Haltung nach dem Motto, da ist in den kommenden Jahren ohnehin nichts zu machen, ist dabei kontraproduktiv und für die Gießener Bürgerinnen und Bürger v. a. im Südviertel nicht akzeptabel.

Der Verein Lebenswertes Gießen e.V. wird die konkreten operativen und strategischen Ansätze der Gießener Parteien im Verkehrsbereich kritisch begleiten und steht für eine inhaltliche Auseinandersetzung auch kurzfristig gern zur Verfügung.