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Bürgerbeteiligung Wir in der Presse

22.11.2011 – Offener Brief an die Oberbürgermeisterin, die Bürgermeisterin und Baustadträtin sowie die Fraktionsvorsitzenden zur Beplanung des Poppe-Areals

Aufgrund der in den vergangenen Tagen und Wochen in Teilen der Medien vorgebrachten z. T.  etwas überraschenden Argumentationen sehen wir uns veranlasst, einige Klarstellungen aus Sicht des Vereins Lebenswertes Gießen e. V. zur Neubeplanung des Poppe-Geländes  vorzunehmen.

Zusammenfassend werden im Wesentlichen folgende Argumente ins Feld geführt, um dafür zu plädieren, die von der Firma Poppe präsentierte (Vor-)Planung möglichst ohne Änderungen und zeitnah umzusetzen:
1. Die 80 Arbeitsplätze, deren Existenz auf dem Spiel stünde, wenn die Planungen der Firma Poppe nicht 1:1 umgesetzt würden.
2. Die vermeintlich fehlende historische Authentizität der Keller.
3. Die Feststellung, dass der Umgang mit dem Gelände in den vergangenen Jahrzehnten in Gießen keine Rolle gespielt habe – und es daher auch jetzt nicht zu tun brauche.
4. Die Charakterisierung derjenigen Gießener Bürger, die sich – aus welchen Gründen auch immer – für andere als die von der Firma Poppe angedachten Lösungen offen zeigen, als „Nostalgiker“ (wobei das Attribut „hoffnungslos“ hier mitzulesen ist).
Zu diesen Argumentationen nimmt der Verein Lebenswertes Gießen e.V. folgendermaßen Stellung.
Dabei erinnern wir daran, dass es auch Mitglieder des Vereins waren, die in den vergangenen Wochen und Monaten durch viele Kontakte mit relevanten Behörden und durch sehr intensive Gespräche mit betroffenen Zeitzeugen dazu beigetragen haben, viele (bei weitem noch nicht alle) offenen Punkte im Zusammenhang mit den Poppe-Kellern anzusprechen und in die öffentliche Diskussion zu bringen, u.a. bei einer öffentlichen Vereinssitzung mit über 100 interessierten Bürgerinnen und Bürgern.

Zu Punkt 1:
Der Verein hat in den vergangenen drei Monaten an zwei von der Stadt Gießen organisierten Veranstaltungen teilgenommen, in deren Rahmen die Vorstellungen der Firma Poppe präsentiert wurden. Zu beiden Anlässen wurde der Stadt und dem Verein durch den Vertreter der Firma Poppe, Herrn Dr. Erlhof, unmissverständlich mitgeteilt, dass es aus Sicht der Firma Poppe ausschließlich darum gehe, die vorliegende Planung umzusetzen, um so den maximalen ökonomischen Nutzen aus dem Verkauf des Grundstücks zu ziehen, da die verbleibenden 80 Arbeitsplätze nur so in Gießen gehalten werden könn(t)en. Die Art und Weise, wie hier den politisch Handelnden (aber auch dem Verein als einem Vertreter von interessierten Gießener Bürgerinnen und Bürgern) die Pistole auf die Brust gesetzt wird, zeigt, dass die Firma Poppe beabsichtigt, mit einer vagen Aussicht auf den Erhalt der Arbeitsplätze jegliche Diskussion im Keim zu ersticken. Der Versuch, sowohl die besondere Bedeutung des Geländes als auch den Erhalt der Arbeitsplätze unter einen Hut zu bringen, soll gar nicht erst unternommen werden.
Aus Sicht des Vereins führen Denkverbote dieser Art nur zu einer frühzeitigen Verhärtung der Fronten und bei den betroffenen Arbeitnehmern zu unnötigen Ängsten. Es ist dem Verein selbstverständlich nicht egal, ob die 80 Arbeitsplätze in Gießen erhalten werden oder nicht. Die vom Betriebsrat artikulierten Befürchtungen sind sehr wohl in allen Überlegungen zu berücksichtigen. Der Verein spricht sich daher ganz klar für einen verbindlichen Erhalt der Arbeitsplätze in Gießen aus.
Eine Standortverlagerung ist in aller Regel eine strategische und keine operative Unternehmensentscheidung, in die weit mehr Faktoren einfließen als rein ökonomische Betrachtungen. Daher erscheint die ausschließliche Einengung der Entscheidung auf die Erlöse aus dem Verkauf des Firmenareals eher konstruiert. Die Firma Poppe benutzt offensichtlich ihren guten Namen, den sie bisher ohne Zweifel in Gießen hat, um von der Stadt Zusagen für weitreichende Bebauungsmöglichkeiten zu erhalten.
Unabhängig davon ist es auch so, dass dem Verein in den vergangenen Wochen von verschiedenen auch mit der Firma Poppe verbundenen Seiten zugetragen wurde, dass die Entscheidung der Verantwortlichen ohnehin bereits gefallen sei – und zwar gegen Gießen (völlig unabhängig vom Verkaufserlös des Geländes). Der Verein sieht sich nicht in der Lage, den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen zu überprüfen. An dieser Stelle sei jedoch daran erinnert, dass es in der jüngeren Gießener Geschichte durchaus Beispiele dafür gibt, dass groß angekündigte Zusagen in Bezug auf Arbeitsplätze sehr schnell über den Haufen geworfen wurden, auch wenn Planungen und Versprechungen seitens der Firmen andere waren – siehe Nürnberger Bund.
Es wäre daher angebracht, wenn die Firma Poppe gegenüber der Öffentlichkeit Zahlen auf den Tisch legen würde, um ihre Argumentation zu untermauern bzw. nachvollziehbar zu machen. Dies gilt insbesondere, da sich das Unternehmen nach Aussage von Herrn Dr. Erlhof (GAZ vom 17.02.2011) in einer guten wirtschaftlichen Situation befindet. Immerhin hat das Gießener Werk als wichtiger Teil der international tätigen Poppe-Veritas Holding GmbH & Co. KG im Jahr 2010 mit 56 Mio. € Umsatz das zweithöchste Ergebnis seiner Geschichte eingefahren.

Zu Punkt 2:
Der unter der Überschrift „Letzter intakter Poppe-Keller »kein authentischer Ort«“ am 11.11.11 in der Gießener Allgemeinen erschienene Artikel, in dessen Rahmen Herrn Schlagetter-Bayertz breiter Platz eingeräumt wurde, stößt nicht nur im Verein auf Verwunderung, vor allem im Hinblick auf seine Intention. Der Verein verwahrt sich mit aller Entschiedenheit gegen die z. T. persönlich verleumderischen Unterstellungen, die völlig ohne Anlass in die Öffentlichkeit getragen werden.

Einige Richtigstellungen seien daher erlaubt:

– Der intakte Keller ist sehr wohl ein authentischer Ort, nicht als Luftschutzkeller, sondern als Teil einer Gesamtanlage. Die Obere Denkmalschutzbehörde prüft, auch wegen der Vorgeschichte der Gewölbe als Brauereikeller aus dem 19. Jahrhundert, das Gesamtensemble der Keller als schützenswert einzustufen (s. GAZ 29.10.2011). Der noch intakte Keller dürfte unserem aktuellen Kenntnisstand nach weitgehend baugleich sein mit den anderen fünf Kellerpaaren, die wohl nicht mehr begehbar sind. Auch wenn er selbst nie als Schutzraum genutzt worden ist, ist es für den Verein sehr wohl möglich, in diesem Keller di »historische Situation« einer solchen Einrichtung zu vermitteln und nachzuempfinden. Herr Schlagetter-Bayertz zieht die Gefühle der Besucher als »authentische Bunkergefühle« ins Lächerliche und disqualifiziert sich damit eher selbst, als dass er einen ernstzunehmenden Beitrag zur Diskussion leistet.
Dies gilt im Übrigen auch für das Argument, es gebe in Gießen mit dem Stein am Kirchenplatz
und dem neuen Bodenornament am Kreuzplatz schon zwei Orte, an denen der Bombentoten gedacht werde.
– Dass die Firma Poppe außer einem lange zurückliegenden ersten Kontakt mit einem inzwischen pensionierten Mitarbeiter der Oberen Denkmalbehörde in den vergangenen Monaten keine Kommunikation mit der zuständigen Behörde hatte, ist für den Verein ein Indiz dafür, dass man an diesem Thema möglichst nicht rütteln wollte – nach dem Motto „keine schlafenden Hunde wecken“-. Zur Erinnerung: Auf dem Grundstück der Firma Poppe sind am 6. Dezember 1944 über 100 Menschen gestorben (Gießener Bürgerinnen und Bürger aber auch Fremdarbeiter). Diese Menschen waren guten Glaubens in die Keller gegangen, obwohl der damaligen Leitung der Firma Poppe hätte klar sein müssen, dass zum einen der Firmenstandort als kriegswichtiger Betrieb bei einer Bombardierung Gießens ein primäres Ziel sein würde und zum anderen die Keller einem Bombenangriff nie standhalten würden. In dieser historischen Verantwortung sieht der Verein die Firma Poppe – ob eine Informationstafel dieser Verantwortung gerecht wird, sei zumindest als Frage erlaubt. – In diesem Zusammenhang ist es sehr wohl wünschenswert, auch der Erinnerung an die Schicksale der Gießener Zwangsarbeiter einen Raum zu geben sowie an die Verbrechen von Gießener Ärzten und Wissenschaftlern im 3. Reich zu erinnern. Vielleicht ist dies sogar eine Möglichkeit, die Justus-Liebig-Universität und das Rhön-Klinikum konzeptionell und finanziell mit „ins Boot“ zu holen. Um eben solche Ansätze zu prüfen und gedanklich weiter zu entwickeln, ist es nach Überzeugung des Vereins kontraproduktiv, sich – wie von einigen gefordert – frühzeitig selbst Schranken aufzuerlegen.

Zu Punkt 3:
Die Aussage, dass die Poppe-Keller in den vergangenen Jahrzehnten keine Rolle gespielt hätten, ist falsch. In den Gesprächen vieler Gießener Familien hat dies seit den schrecklichen Ereignissen 1944 sehr wohl eine wichtige Rolle gespielt – allerdings „nur“ im privaten Rahmen.
Richtig ist, dass es aufgrund der privatrechtlichen Besitzverhältnisse keine Möglichkeit gab, sich konzeptionelle Gedanken über den Umgang mit den Kellern zu machen. Diese Ausgangssituation hat sich durch den geplanten Umzug der Firma Poppe nun komplett verändert – es ist daher die Aufgabe einer informierten und interessierten Bürgerschaft ebenso wie der Gießener Stadtpolitik, sich Gedanken darüber zu machen, wie die zukünftige Nutzung des Geländes aussehen könnte/sollte.

Zu Punkt 4:
Die Nachkriegsgeschichte Gießens ist sicher nicht davon geprägt, dass es eine zu große Rücksichtnahme auf die nach der Bombardierung noch vorhandene Bausubstanz und/oder historische Zusammenhänge gegeben hätte. Man hätte sich an der einen oder anderen Stelle sicher gewünscht, dass sich in der Vergangenheit mehr „Nostalgiker“ in Gießen zu Wort gemeldet hätten.
Für den Verein ist der Erhalt der Poppe-Keller kein Selbstzweck. Vielmehr bieten sie vermutlich eine der letzten Gelegenheiten, besondere historische Bausubstanz zu sichern und den Gießener Bürgern einen Raum zum Andenken an ein leidvolles Kapitel der Gießener Geschichte mit all seinen Facetten in der hier möglichen Anschaulichkeit zu erhalten.

Fazit:
Es ist aus Sicht des Vereins nicht einzusehen, warum zu einem solch frühen Zeitpunkt des städtischen Planungsverfahrens bereits eine gedankliche Reduzierung auf die – vorsichtig formuliert – bisher wenig inspirierten Planungen der Firma Poppe vorgenommen werden sollte. Ein-Varianten-Lösungen und Denkverbote, wie sie die Firma Poppe aktuell anbietet bzw. fordert sind in diesem frühen Stadium kontraproduktiv.
Der Verein weiß nicht, wie lange die Fa. Poppe noch am Standort Gießen produzieren wird. Klar ist jedoch, dass die anstehenden Planungen das Gießener Südviertel über Jahrzehnte prägen werden.
Der Abriss der Keller würde die unwiederbringliche Zerstörung der historischen Bausubstanz bedeuten – ein nachträgliches „Ach, hätten wir doch nur…“ gilt es zu vermeiden.
Es geht nicht um ein unbedeutendes, am Rande der Stadt gelegenes Einzelgrundstück, sondern um eine neu zu beplanende Fläche von immerhin fast drei Hektar, die mitten in Gießen liegt. In der Vergangenheit wurden in der Stadt Gießen viele Chancen vertan, dem historischen Erbe und Bürgergedächtnis einen Raum zu geben – vertun wir diese Chance bei der Neugestaltung des Poppe-Geländes nicht auch leichtfertig!